Geschichten aus dem fernen, fernen Boji

Der Besucher

Die für ihre Weisheit und Gerechtigkeitsliebe bekannte Kaiserin von Boji saß täglich zwei Stunden auf ihrem Thron im Palast von Owanu und gewährte ihren Untertanen Audienz, um von den Leuten selbst ihre Kümmernisse und Nöte zu erfahren. Eines Tages kam ein kleiner Beamter, der aus einer fernen Provinz in die Nähe des Kaiserpalastes versetzt worden war, zu ihrer Audienz, verneigte sich tief, verglich sie mit der Sonne und warf sich ihr schließlich, von seinen Gefühlen übermannt, zu Füßen. Die Kaiserin blickte ihn lächelnd an und hieß ihn aufstehen. Obgleich sie Ehrerbietung schätzte, war es ihr doch zuwider, wenn sich die Leute ohne Grund so ganz auf den Boden warfen. Der Beamte stand kurz auf, erblickte wiederum die Kaiserin und warf sich in einer neuen Aufwallung abermals vor sie hin. Die Kaiserin lächelte geduldig weiter und ermahnte ihn abermals höflich aufzustehen. Als er sich gefasst hatte und auf die Füße gekommen war, verglich er sie wortreich mit Musik und schmeichelte ihr auf so vielerlei Arten, dass sie sich wünschte er möge endlich von seinem Anliegen berichten. Da er aber kein Ende seiner Huldigungen zu finden schien, fragte sie ihn schließlich, was der Grund für sein Kommen sei. „Euch zu sehen! Nur deswegen kam ich.“ Die Kaiserin dankte ihm für seine Treue und entließ ihn mit dem Wunsch, er möge seinen Besuch bei ihr in guter Erinnerung behalten.

Am darauf folgenden Tag kam er erneut, um sich geduldig in die Schlange der Wartenden vor dem Thronsaal zu stellen. Er sah schon von dort her die Kaiserin mit einem Bauern sprechen. Als sie aber  aufblickte und ihre Augen durch den Saal glitten, wurde sie gewahr, wie sich der Beamte in der Schlange reckte und wand, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie ignorierte ihn, ihre Aufmerksamkeit gehörte nun dem Bauern. Einzelne Wachen wurden auf das seltsame Gebaren des Beamten aufmerksam und ermahnten ihn, sich in Gegenwart der Kaiserin gesittet zu betragen. Doch er zuckte nur mit den Schultern, als wollte er fragen, was er denn getan hätte und zwinkerte der Kaiserin verschwörerisch zu. Als er an der Reihe war, warf er sich wie tags zuvor wieder vor sie hin und verglich sie so ausgiebig mit Blumen, dass sie ihn gleich zwei mal wegschicken musste, bis er sie überhaupt hörte.

Der Beamte erschien nun täglich zur Audienz. Die Kaiserin sah ihn jedes mal schon von Fern in der Schlange stehen, denn er reckte und wand sich mit jedem Tag auffälliger und alberner, winkte und zwinkerte, als ginge es um sein Leben. Nur wenn eine Wache ihm direkt finster in die Augen blickte, hielt er kurz inne und tat so, als sei nichts gewesen. Wenn ein Wächter an ihn heran trat um ihn zu rügen, zuckte er unschuldig mit den Schultern und fragte, was das denn solle. Die Kaiserin wünschte sich still, dass er aufhören möge, ihre Zeit zu stehlen von jenen, die ein wirkliches Anliegen hatten. Wenn sie dann mit ihm sprach, bemerkte sie, wie ihre Stimme mit jedem Tag kälter und unfreundlicher wurde. Der Beamte aber schien es nicht zu bemerken.

Mit der Zeit begann er, der Kaiserin aus der Schlange heraus Kusshände zuzuwerfen und wo er stand kleine Tänzchen aufzuführen, womit er alle Bittsteller, die in der Schlange des Tages um ihn her standen, gegen sich aufbrachte. Aber wenn ihn einer zurecht wies, zuckte dieser mit den Schultern und gab zur Antwort, dieser möge sich um seine eigenen Probleme bekümmern. Als dann die Kaiserin seine Tänzchen in der Schlange bemerkte, spürte sie das Bedürfnis, ihre Wächter anzuweisen, ihm ihre Stäbe gegen die tanzenden Beine zu schlagen. Sie rang solche Gedanken nieder. Was tat er schon schlimmes? Kam er nicht, um sie zu preisen? Konnte sie ihn dafür bestrafen lassen? Sie war die Kaiserin und würde sich von den Eigenarten eines kleinen Beamten nicht provozieren lassen. Im ganzen Reich verbreitete sich die Kunde von dem unrühmlichen Schauspiel des Beamten durch jene, die ihn schon einmal im Thronsaal beobachtet hatten. Die Geschichten über den verrückten Beamten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer bis in die entlegensten Provinzen.

Die Zeit, seit der Beamte täglich ihre Audienz besuchte, kamen der Kaiserin wie Jahre vor und sie begann Erkundigungen einholen zu lassen. Aber der Beamte war ansonsten nicht besonders aufgefallen und auch, wenn er nicht zu den herausragenden Beamten zählte, so schien er doch rechtschaffen genug und kaum faul. Die Kaiserin konnte zu ihrem Missvergnügen keinen Grund finden, den Beamten in seine ferne Provinz zurück versetzen zu lassen. Unglücklicherweise gab die Kaiserin stets dem kühlen Verstand und übergeordneten Prinzip den Vorzug und rühmte sich öffentlich damit, alle ihre Entscheidungen in der Sache und frei von Emotionen zu treffen. Dass ein kleiner Beamter es einmal wagen würde ihr so lästig zu fallen, konnte sie vor sich selbst nicht gelten lassen. Es war nun einmal so: er tat nichts ungesetzliches und konnte daher nicht bestraft werden. Sie war die Kaiserin. Es war ihre Aufgabe über den Dingen zu stehen.

Als er am nächsten Tag durch die Halle auf sie zu schritt, zeichnete er mit beiden Armen gewaltige Herzen in die Luft. Vor einer ganzen Weile hatte er aufgehört sich vor sie hinzuwerfen. Und kam er in letzter Zeit noch etwas dichter an ihren Thron heran? Sie schob den Gedanken als Hirngespinst beiseite. Sie war die Kaiserin, er musste seinen Platz kennen. Er verglich sie diesmal mit dem tiefen, schimmernden Ozean. Doch dann fuhr er fort, dass gleich dem Ozean auch er Geheimnisse berge. Da blickte er sie keck an und flüsterte in verschwörerischem Ton, dass er sein Geheimnis mit ihr teilen würde. Die Kaiserin hielt ihr Gesicht starr und unterdrückte einen plötzlichen Anfall von Übelkeit. Sie war im Begriff nach den Wachen zu rufen, als er in einem Triumfgeheul beide Arme nach oben riss, so dass die Ärmel seines Gewands bis zu den Oberarmen hinunterrutschten. Er hatte die Aufmerksamkeit aller Wartenden, aller Wachen und der Kaiserin, die es geschafft hatte nicht aufzuschreien. Auf seinen obszön entblößten Armen stand in feinen Reihen tiefschwarzer Tinte immer wieder der Kaiserin Name aufgeschrieben. Die Kaiserin starrte auf die Arme und erschauderte bis ins Mark. Als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, schickte sie ihn ohne weitere Worte fort. Auf halbem Wege aus dem Saal drehte er sich noch einmal um und zwinkerte ihr zu. Die Kaiserin wollte ihren Kelch nach ihm werfen, damit er endlich begreife und nicht wiederkäme. Natürlich verbot sie sich solcherlei Kindereien. Sie suchte sich zu beruhigen. Was hatte er schlimmes getan? Sich betragen wie ein Kind, wie ein Schuljunge, der kleine Botschaften auf seine Hände kritzelt. Er verstand nicht ihre Gesten der Ablehnung und ihre Zeichen der Verärgerung, die jeden anderen Untertanen mühelos in seine Schranken wiesen. War es nicht dieses Betragen, das zeigte, dass er im Grunde wirklich nicht gescheit war? Als einfacher Beamter offenbar brauchbar, aber ansonsten in der Welt hilflos und in seinem Wesen nicht über ein Kind hinausgewachsen? Wie konnte sie sich über solcherlei penetrante Dummheit nur so echauffieren? Sie war immerhin die Kaiserin und stand über den Dingen.

In den darauf folgenden Tagen konnte sie mit wachsendem Ekel beobachten, dass immer mehr Teile seines Körpers mit ihrem Namen vollgeschrieben waren. Wenn er ihr aus der Schlange der Wartenden zuwinkte und ihr Kusshände zuwarf, konnte sie sehen, dass plötzlich auch seine Hände mit ihrem Namen beschrieben waren. Tags darauf war es auch sein Hals und am Tag danach sogar sein ganzes Gesicht. Als er in diesen Tagen beim Warten seine Tänzchen vollführte, konnte man auch von Ferne erkennen, dass selbst seine Fußknöchel beschrieben waren. Mit Entsetzen begriff da die Kaiserin, dass es wohl keinen Teil seines Körpers mehr gab, auf dem nicht ihr Name prangte. Eine unselige, einfältige und bemitleidenswerte Provokation, auf die sie keinesfalls reagieren würde. Die Genugtuung es auch nur zu bemerken, würde sie ihm nicht geben. Die ganze Hauptstadt lachte lauthals über ihn und sie würde einfach mitlachen.

Im ganzen Reich gab es mittlerweile wilde Spekulationen über den kindsköpfigen Beamten und was er sich wohl als nächstes einfallen lassen würde. Über die Kaiserin aber sprach man bewundernd, über ihre ruhige Besonnenheit, ihre geistige Stärke und sanfte Geduld mit dem armen Tropf. Manch einer spekulierte, dass sie insgeheim die anhaltende Bewunderung genoss, andere waren überzeugt, dass sie sich im Stillen einen Spaß aus den Besuchen des Beamten machte. Niemand konnte wissen, wie sehr die Kaiserin längst die Stunden der Audienzen verabscheute, wie Ekel und Wut ihre Gedanken vergifteten und ihre Tage ausfüllten. Der Beamte kam nur wenige Minuten des Tages zu ihr und sie vertrieb ihn schnell aus dem Thronsaal, aus ihrem Kopf aber konnte sie ihn nicht vertreiben, so dass sich ihre Stimmung zusehends verdüsterte. Doch nie würde sie vor dem gesamten Reich eingestehen, dass ein kleiner impertinenter Beamter sie zerrüttete.

Der Beamte hatte eine neue Verhaltensweise entwickelt: bei jeder Audienz brachte er der Kaiserin ein kleines Geschenk, etwa eine Süßigkeit oder ein Kleinod. Mit den Worten „Ihr schenkt mir Eure Treue als Untertan und Eure Loyalität als Beamter, etwas anderes werde ich nicht annehmen“ lehnte sie jedes mal ab. Darauf folgte stets seine wiederholte Bitte, es doch einmal zu tun. Immer schickte sie ihn mit kalter Stimme fort. Oftmals verließ er dann allerdings nicht mehr den Palast, sondern entfernte sich vom Thron und strich zwischen den Wartenden im Gang umher oder zog lange Kreisbahnen zwischen dem hinteren Teil des Saals und dem Gang. Dabei führte er seine Tänzchen auf, warf Kusshände und winkte in Richtung der Kaiserin, oder er zog, in Gespräche mit sich selbst vertieft, wilde Fratzen. Die Wachen ließen ihn dann gewöhnlich ein paar Minuten gewähren, um sich über ihn zu amüsieren. Wenn es ihnen dann zu bunt wurde, warfen sie ihn schließlich hinaus. Die Kaiserin schwieg. Es war ihr zuwider vor den Wachen die Geduld zu verlieren.

Wenig später kamen erstmals Gerüchte auf, man habe den Beamten auch in der Nacht um den Palast schleichen sehen. Die Kaiserin ließ von da an des Nachts verstärkt um den Palast herum patrouillieren. In den folgenden Nächten wurde nichts gefunden und einige Wachen begannen im Stillen zu murren, dass sie sich sinnlos die Nächte um die Ohren schlagen müssten. Die Kaiserin war fast schon mit sich überein gekommen, die zusätzlichen nächtlichen Patrouillen, die sich offenbar das Ergebnis von Geschwätz erwiesen, wieder abzuschaffen, als man ein unbekanntes, abgerissenes Stück Stoff im Gesträuch um den Palast fand. Die Kaiserin gab Befehl die nächtlichen Patrouillen mit Pfeil und Bogen auszustatten, von denen auf Verdacht Gebrauch zu machen sei. Schlich der Beamte wirklich nachts um den Palast? Würde er es wagen sich ihr zu nähern? Ihr etwas anzutun? Sie lag längst schon in allen Nächten wach, weil ihre Gedanken ihr keinen Schlaf mehr erlaubten. Sie hoffte inständig, die Wachen mögen den Beamten vor dem Palast erschießen. Mit seinen Besuchen wäre es vorbei und seine Absichten wären endlich für jedermann sichtbar: denn wer nachts um den Palast schleicht, plant einen Anschlag auf die Kaiserin. Er war ein Spion oder Schurke, der nur einfältig tat, um sich zu tarnen, ihren scharfen Verstand zu verdüstern und ihre Regierung zu schwächen. Selbst wenn er nicht von Pfeil und Bogen durchbohrt würde, hätte sie endlich Grund genug ihn hinrichten zu lassen. In den wenigen Stunden unruhigen Schlafes, träumte sie lebhaft und blutig davon, es selbst zu tun: als Henkerin und nicht als Kaiserin, die Hüterin von Ordnung und Gesetz war.

Tage vergingen mit den üblichen täglichen Besuche, doch ohne ein Zeichen in der Nacht. Die Kaiserin versuchte, sich auf die Regierungsgeschäfte zu konzentrieren, doch es wollte ihr kaum gelingen. Tauchte der Beamte auf, beobachtete sie ihn wie eine Besessene, um zu erkennen an welcher Stelle er sich verraten würde. Nichts geschah, was nicht auch zuvor geschehen war. Die Untertanen konnten in den Audienzen sehen, dass die einst strahlende Kaiserin verhärmt und abweisend geworden war. Keiner konnte sich erklären, was vorgefallen sein mochte und erste Gerüchte kamen auf, dass die Kaiserin an einer ernsten Krankheit leide. Die Kaiserin vernahm dies und schnaubte verächtlich. Sie mochte lieber als krank gelten und überleben, denn als willensschwach und verängstigt und dabei untergehen. In einer ihrer schlaflosen Nächte beobachtete sie freudlos eine Münze, die sie zwischen ihren Fingern kreisen ließ und auf der ihr Profil eingeprägt war. Doch ihr Blick ging in Wahrheit durch die Münze hindurch in eine tiefe Finsternis, die erfüllt war von Gekicher, Zwinkern und Winken sowie Blitzlichtern die Fetzen beschriebener Haut beleuchteten. Die Blitze machten abgetrennte Gliedmaßen sichtbar, die in feinen Linien mit ihrem Namen beschrieben waren. Für einige glückliche Momente glaubte die Kaiserin in der Dunkelheit Eisen riechen zu können und begann selbst unkontrolliert zu kichern. Plötzlich klopfte es laut vernehmlich an der Tür, drei mal, dann herrschte Stille. Das Kichern der Kaiserin erstarb. Niemand klopfte des Nachts an die kaiserlichen Schlafgemächer. Eine Wache würde eine Erklärung gegeben haben. Die Kaiserin umklammerte die Münze wie eine Rettungsleine, so fest, dass sie sich in ihre Handfläche eingrub, erhob sich langsam und ging klopfenden Herzens zur Tür. Als sie öffnete starrte sie in die Dunkelheit vor sich. Für einen Moment entspannte sie sich und begriff, wie ihre Hand den Türgriff schmerzhaft umklammerte, um nicht zu zittern. Sie blickte noch ein paar Momente in die leere Dunkelheit auf dem Gang vor ihrem Zimmer, als ihr schließlich die Idee kam nach unten zu blicken und sie langsam die Augen senkte. Vor der Schwelle zu ihren Füßen lag ein längliches geschnitztes Kästchen, recht hübsch, wenn auch nicht prunkvoll gearbeitet.

Die Kaierin bückte sich wie nach einer Viper, der sie nicht entrinnen konnte, nahm das Kästchen an sich und schloss die Tür. Mit klammen Fingern entzündete sie eine Kerze. Als sie nach dem Kästchen griff, um es zu öffnen, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Als sie in das Kästchen blickte atmete sie immer noch nicht und war für eine kleine Spanne des Sterbens auch nicht sicher, ob es ihr je wieder gelingen würde. Als sie sich schließlich doch erinnerte Luft einzusaugen, presste sie gleichzeitig ihren Handrücken gegen den Mund und versenkte schmerzhaft ihre Zähne darin. Im Kästchen lag eine einzelne Schreibfeder mit geschwärzter Spitze, wie man sie verwendete um in feinen und doch deutlichen Linien zu schreiben. Weiter gab es nichts in dem Kästchen und war auch nicht von Nöten. Der Kaiserin war es, als müsse sie augenblicklich ihre kalte Haut abstreifen, doch war es ihr, als ob darunter nichts mehr von ihr übrig sei, als wäre sie nur aus Luft geschaffen, die durch Spannung zusammengehalten würde. Wie lange sie sie so dastand und auf die Schreibfeder starrte, vermochte sie nicht einzuschätzen, doch kostete es sie allzu viel Kraft sich schließlich loszureißen. Kaum in sich selbst anwesend informierte sie die Wachen, dass ein Eindringling etwas vor ihre Tür gelegt habe und versprach demjenigen Reichtum, der ihr dessen Kopf zu bringen vermöge. Wieder mit der Schreibfeder allein gelassen nahm sie ein weißes Tuch und griff damit die Feder aus dem Kästchen, drehte es bei Kerzenschein dicht vor ihren Augen und spürte, dass die Zeit ihre Haut abzustreifen und sich aufzulösen vorbeigezogen war. In dem Maße wie sie zuvor leer gewesen, war sie nun übervoll und wusste sich keinen Anfang für die beißende Macht der Wut. Als sie sich letztlich wieder in die Form eines Menschen gebracht hatte, setzte sie sich bei Kerzenschein an ihren Tisch, nahm reichlich Papier zur Hand und verfasste den Rest der Nacht mit der Schreibfeder aus dem Kästchen Gesetz um Gesetz. Bei Morgengrauen waren alle neuen Gesetze unterschrieben und besiegelt. Noch bevor sie daran dachte sich angemessen zu kleiden, hatte sie schon Würdenträger und Boten bestellt und mit den neuen Gesetzen ausgesandt. Der Beamte hatte offenbar gegen keinerlei Gesetz verstoßen, von nun an würde er es tun.

Die Kaiserin wappnete sich in grimmiger Entschlossenheit für die Audienz und wies die Wachen an, schon den kleinsten Verstoß gegen die neuen Gesetze schwer zu bestrafen. Zum ersten mal überhaupt brannte die Kaiserin darauf den Beamten zu sehen. Mit jedem neuen Gesicht, das unter den Wartenden erschien, hoffte sie auf ein erbärmliches Zwinkern. Sie trug einen Dolch am Gürtel, ohne die Absicht ihn zu benutzen. Jedenfalls nicht ohne Not. Doch der Beamte blieb fern. Nicht nur an jenem Tag. Auch in den folgenden Tagen und Wochen wurde er nicht mehr gesehen. Nicht bei den Audienzen, nicht bei seiner Arbeit und nicht in seiner Heimat. Die Kaiserin aber konnte nicht mehr aufhören, auf ihn zu warten, stets den Dolch am Kleide.

Die Seherin

Beim großen Treffen der Sternseher aller bekannten Reiche zu Ehren der Volljährigkeit der Königin von Bao, der größten Provinz von Boji, waren alle Straßen der Provinzhauptstadt Kweh nicht nur von Licht und Glückwünschen, sondern auch von Menschen völlig durchflutet. Sie alle wollten einen Blick auf die mit großem Gefolge anreisenden Sternseherinnen und Sternseher erhaschen. Als Perle der Sternseherkunst galt die vielgerühmte Garu Tap, die auch mit dem größten Gefolge reiste und mit einem derart prächtigen Zug von Dienern, Gepäck und Verehrern Einzug hielt, dass mancher fast vergaß, dass doch die Königin die wichtigste Person in der Stadt war. Die vielen Menschen, die in den Straßen zu flirren schienen, wie die sonnenbestrahlenen Staubkörner, hielten bei ihrem Anblick ehrfurchtsvoll inne und verneigten sich tief. „Die Kunst von Garu Tap strahlt heller als die Sterne, denen sie ihre Geheimnisse entlockt“, rief einer der Schaulustigen und alle um ihn herum jubelten und nickten zustimmend. Zur gleichen Zeit an an einer anderen Stelle der Stadt und von weit weniger Schaulustigen bemerkt, betrat eine andere Seherin ohne Gefolge die Stadt. Zabenay war wenigen als Seherin bekannt, denn sie hatte bisher selten gesprochen.

Im größten und prächtigsten Saal der großen Akademie von Kweh, die als herausragendste Akademie in ganz Boji galt, trafen schließlich alle Seherinnen und Seher zusammen, wie Sand, den man durch die vielen Türen in die große Halle goss. Sie nahmen auf weichen Diwanen, verzierten Kissen und gestapelten Teppichen Decken platz, versorgten sich mit dampfendem Kaffee, würzigem Tee und auserlesenem Gebäck. Dabei suchten sich die bekanntesten unter ihnen einen bequemen Platz aus, der von Lage und Art ihre Stellung betonte und überließen anderen die Ehre, sich um sie zu scharen, sie anzusprechen und sie gar zu befragen. Garu Tap, die eine Füchsin war und auf viele Jahre Erfahrung vertrauen konnte, wählte nicht den Platz in der Mitte der Halle. Den überließ sie den eitlen Pfauen, denen es wichtiger war gesehen zu werden als zu sehen. Sie ließ sich am vorderen Kopfende der Hall nieder, so dass ihr Gefolge den ganzen Bereich von der einen vorderen Ecke bis zur anderen vorderen Ecke einnehmen konnte. Sie war am weitesten von den vielen Türen entfernt und jeder, der zu ihr wollte, musste mindestens einen Teil der Halle mühevoll durchschreiten, um zu ihr zu gelangen. Außerdem würde hier am Kopfende die Königin die Gäste begrüßen und Garu Tap hatte – was das Entscheidende war – einen freien Blick auf den Raum, wo sie weitere Verehrer, aber auch Rivalen erkannte und ihr Erscheinen sie nicht überraschen konnte. Manche dieser Narren hatten versucht Garu Tap Konkurrenz zu machen, oder sie gar zu übertrumpfen. Doch Garu Tap spielte nicht. Ihre Aufgabe war es zu sehen und das tat sie.

In vielen größeren und kleineren Gruppen hatten sich die Seher nun zusammengefunden. Manche waren begehrte Gesprächspartner, andere versuchten zu ihnen vorgelassen zu werden. Diejenigen, die sich von gleichem Rang wähnten, diskutierten eifrig und versuchten einander in Herablassung zu übertrumpfen. Allerorts versuchte man neue Erkenntnisse zu gewinnen oder aber im Glanze der Großen zu baden. Zabenay betrat die Halle durch eine der kleinen Türen am hinteren Ende. Sie gesellte sich wiegenden Schrittes mal zu dieser mal zu jener Gruppe hinzu, sprach nicht und hatte es nicht eilig irgendwo hin zu kommen. Mal wurde sie beachtet, mal nicht. Mal blieb sie nur kurz, aber manchmal verweilte sie länger und lauschte. War es töricht, fragte sie sich, den Gedanken anderer Zeit zu schenken, statt ihre eigenen Gedanken fortzuspinnen, wie ein Tuch für ein edles Kleid, bis es die richtige Struktur hatte um Schutz und Zier zu sein? Zabenay ertappte sich ein ums andere mal dabei, dass sie bei Leuten stand ohne im gleichen Raum zu sein. Oftmals fühlte sie sich auf bei engstem Kontakt mit einer Person, als sei sie unermesslich weit entfernt und die Person sei ein Trugbild, das ihr nichts zu sagen habe. Zabenay wanderte weiter dem Ende der Halle zu. Dort webte die Meisterin Garu Tap, nicht an einem Tuch, sondern an einem Netz, das umfangen und binden konnte. Garu Tap sprach viel und ausnahmslos mit jedem, der sich ihr näherte, ohne nach Stand oder Herkunft zu fragen. In Wahrheit waren ihr die niederen Seher die liebsten, denn sie ließen sie heller strahlen. Und wenn sie einem von ihnen ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte, so dass seine Wangen glühten, beendete sie ihre kurzen Worte der Erleuchtung mit dem Satz: „Geh nun, aber vergiss nie, wer dich dies gelehrt hat.“ So trug ein jeder dieser Beseelten Garu Taps Namen auf seinen Lippen in die entferntesten Provinzen hinein. Garu Tap hatte wie niemand vor ihr verstanden, dass der Ruhm des Sehers nicht vornehmlich davon abhing was man sah, sondern wer, wann, wo und zu wie vielen davon erzählte. Zabenay hatte inzwischen die Kreise von Garu Tap erreicht und lauschte erst zwei Sehern aus ihrem Gefolge bei einem Streitgespräch, dann aber auf die melodische Stimme Garu Taps, die zu einem jungen Mädchen sprach. Diesem sagte man ebenfalls die Gabe des Sehens nach, daher war sie gekommen um zu beobachten und zu lernen. Zabenay hatte die Nase gekräuselt. Sie fand keinen Fehler in Garu Taps erläuternden Worten, die sie dem jungen Mädchen darbot. Was sie über das Sehen sagte, war richtig, aber es schien Zabenay ohne Tiefe und Bedeutung, in hunderten Mündern schon geführt. Die Meisterin bedeutete dem Mädchen den Abschied und sprach: „Geh nun, aber vergiss nie, wer dich dies gelehrt hat.“ Das Mädchen erstickte beinahe vor Dankbarkeit und verneigte sich im Gehen viele Male vor Garu Tap.

Von einem durchdringenden Gefühl getrieben, schritt Zabenay langsam vor Garu Tap hin. In Augenblicken fanden Garu Taps Augen die Augen von Zabenay. Die beiden Frauen betrachteten einander einige Momente schweigend, bis Garu Tap sprach: „Die Sterne haben mir vor langer Zeit gesagt, dass du kommen würdest.“ Zabenay schwelgte nachdenklich in Garu Taps makellosen Händen bevor sie zur Antwort gab: „Die Sterne haben keine Zungen und keine Antworten zu geben. Sie ziehen nur kalte Bahnen über den Himmel und geben den Mathematikern Nahrung. Talmi-Seher glauben daran, dass die Götter mit großen Federn Antworten in den Himmel schreiben, die man nur zu lesen braucht. Wir aber blicken um zu sehen nur deswegen zum Firmament, weil die Unendlichkeit, die hinter den Sternen liegt uns an die Unendlichkeit unserer Gedanken erinnert, die hinter dem Alltäglichen liegt. Du wusstest, dass ich kommen würde, weil es nicht anders sein konnte.“

Garu Tap lächelte, nahm Zabenay bei der Hand und zog sie zu sich auf den Diwan: „Du bist gekommen, um mich zu verachten.“ „Nein“, erwiderte Zabenay, „ich bin gekommen, dich zu beneiden.“ Garu Tap neigte nachdenklich den Kopf und sprach: „Du kannst die Unendlichkeit sehen. Das bedeutet, dass du auch in Staubkörnern die Wahrheit erkennen kannst. Ich bin keine Pfuscherin. Ich erteile den besten Rat, den ich kenne. Aber eine Meisterin bin ich nur darin, das wenige, das ich sehen kann, wortreich zu erklären und den Menschen meinen Namen auf die Zungen zu legen. Worum solltest Du mich beneiden?“ „Um alles was du kannst, natürlich. Nur die Dummen neiden nicht, weil sie die Schönheit im anderen nicht erkennen können. Die Kunst aber ist, nicht im Neid seine Heimat zu finden, sondern zu lernen. Mein Name ist Zabenay und ich sehe, wo immer ich hinblicke. Doch oft fehlen mir die Worte, die eine Brücke zu den Menschen bauen und niemand leiht mir sein Ohr und keine Herzen fliegen mir zu, weil ich mich selbst nicht überwinden kann. Was nützt meine Gabe, wen erheben meine Erkenntnisse, wenn meine Lippen stumm bleiben, mein Herz kalt und meine Botschaften ungehört? Auch wenn ich nichts zu neiden habe unter den Sehern, auch wenn mich schmerzt, wie viele ihre Worte wie Körper verkaufen, weine ich doch nachts, weil meine Worte unberührt bleiben.“

So hatte noch niemand mit Garu Tap gesprochen. Sie nahm sich einige Momente Zeit und strich schweigend Zabenay mit ihren Fingern durchs Haar. „Natürlich verkaufen wir Seher in silbernen und goldenen Worten, was unsere Augen kitzelt. Und in den Worten der begabteren mag sich hier und da ein wahrer Edelstein offenbaren. Auch wir schlafen nicht gut im Regen und essen lieber ein kräftigendes Mahl als dünne Suppe. Dem Bauern würde das niemand vorwerfen. Mein Name ist Garu Tap und niemand verkauft Antworten noch neue Fragen, wie ich es vermag. Du tust gut daran, mir dies zu neiden, denn auch diese Kunst ist nicht gering. Und doch weine ich hin und wieder des nachts , weil ich im See nur den Spiegel zu erkennen vermag, nicht aber das reiche Leben darunter. Und weil mein Herz nicht kalt ist, bohrt sich der Stachel tiefer in meine Seite und quält mich in meinem weichen Bett.“ So hatte niemand zu Zabenay gesprochen. Sie erhob sich schweigend, verneigte sich und küsste Garu Tap die Hand. Darauf hin erhob sich Garu Tap, verneigte sich und küsste Zabenay die Stirn. Da sie alles gesehen hatte, was es hier für sie zu sehen gab und auch alles gehört hatte, was ihr hörenswert war, verließ Zabenay noch am selben Tage die Stadt Kweh und bald auch die Provinz Bao und kehrte in ihre Heimat zurück. Wer sie auf der reise beobachtete, wunderte sich über die Fingerübungen, die Zabenay mit unermüdlicher Geduld vollführte. Traf sie auf ihrer Reise andere Menschen, so ging sie mit ernstem Blick auf sie zu, nahm sie vorsichtig in ihre Arme und flüsterte ihnen nicht überlieferte Worte in die Ohren.

Nachdem Zabenay die Akademie verlassen hatte, hatte sich Garu Tap wieder auf ihren Diwan gesetzt. Sie empfing den ganzen Tag ehrfürchtige Verehrer und Ratsuchende. Doch ihr Herz und ihre Gedanken verweilten noch lange bei Zabenay und den Worten, die sie gewechselt hatten. Und als Garu Tap am Abend ihre Robe ablegte, um sich zu Bett zu begeben, war es ihr, als sei eine Schuld von ihr abgefallen. In dieser Nacht schlief sie tadellos und so blieb es für den Rest ihres langen Lebens.

Die Asketen von Mandoran

In Mandoran, einer kleinen Stadt unweit von Bojis Hauptstadt Owanu, setzten sich eines Tages die Zwillinge Alef und Alif auf einen großen, flachen Stein in der Nähe des Marktplatzes. Dort blieben sie – zuerst unbemerkt – einfach schweigend sitzen. Die geschäftigen Leute von Mandoran gingen mit zügigen Schritten an ihnen vorbei. Wer die beiden kannte, der grüßte kurz oder nickte freundlich. Erst als die regelmäßigen Besucher des Marktplatzes von Mandoran nach einigen Tagen begriffen, dass die Zwillinge ihren Stein nicht mehr verließen, sondern tagein, tagaus dort anzutreffen waren und nur sprachen, wenn sie angesprochen wurden, wunderten sie sich. Einige begannen die Zwillinge im Vorbeigehen seltsam anzublicken oder zu kichern. Manche blickten gar interessiert, wieder andere hingegen verärgert oder empört. Es war der Oberste Stadtwächter, der nach einigen Tagen zu den beiden jungen Menschen hinüberging und sie ansprach, denn es war seine Aufgabe für Ordnung zu sorgen. Wenn junge Leute aber tagelang einfach herumsaßen war etwas möglicherweise nicht in Ordnung und das musste aufgeklärt werden. Er trat also vor Alif und Alef hin, räusperte sich geräuschvoll und begann zu fragen, ob ihnen denn nicht langweilig sei, den ganzen Tag auf dem Stein zu sitzen. Alif fragte zurück, wie es ihnen wohl langweilig sein könne, bei all dem, was sie täglich zu sehen bekam. Viel wichtiger sei aber, sich selbst zu beobachten und über seinen Platz in der Welt hinreichend nachzudenken. Am nächsten Tage befragte der Oberste Stadtwächter Alef und wollte wissen, ob es ihm denn nicht zu unbequem sei, so auf dem Stein zu sitzen bei jedem Wetter. Alef gab zur Antwort, dass es auf die Bequemlichkeit nicht ankomme, sondern auf die richtige Entscheidung. Am Tage darauf kam der Oberste Stadtwächter noch einmal, um nun endlich zu ergründen, was dieses seltsame Verhalten zu bedeuten hatte. Als er die Zwillinge nun endlich genau dies fragte, war es Alif, die ihm antwortete, dass dem Geist immer der Vorzug zu geben sei. Der Geist müsse die Materie, also den Körper, bezwingen, der schwach und vergänglich sei. Die körperlichen Wünsche und triebe gehörten dem Tiere an und seien zu verdammen. Der Körper sei wertlos, nur die Erkenntnisse und Entscheidungen des Geistes seien ewig und daher von Bedeutung. Die Zwillinge seien entschlossen auf dem Stein sitzen zu bleiben, um ihren Blick nach Innen und ihren Geist in die Welt des Prinzipiellen schweifen zu lassen.

Diese Sicht der Dinge erschien dem Obersten Stadtwächter zwar seltsam, doch wenig bedrohlich für die Ordnung von Mandoran und er verließ die Zwillinge in der Überzeugung, dass ihre Körper ihrem Tun beizeiten ein Ende setzen würden. Ein Passant schüttelte verständnislos den Kopf und trottete seinem Tagwerk entgegen.

Indes verweigerten die Eltern der Zwillinge jede Auskunft zu dem sonderbaren Verhalten ihrer Kinder. Sprach man sie darauf an, taten sie so, als wüssten sie nicht, wovon die Rede sei. Wie ein Mantra wiederholten sie, dass ihre Kinder weit entfernt auf eine gute Schule gingen und ihren Eltern mit regelmäßigen Briefen alle Freude und mit ihren guten Ergebnissen den größten Stolz machten. Gerüchte besagten jedoch, dass die Mutter in manchen Nächten zu den Kindern hin schlich um ihnen zuzureden und ihnen Dinge zu bringen, die diese nicht annahmen. In anderen Nächten schlich sich der Vater zu dem Steine hin, auf dem die Kinder weilten, und ermahnte sie eindringlich den Unsinn zu beenden und nach Hause zu kommen, was sie ablehnten.

Als eines Morgens die Sonne über Mandoran aufging und die ersten Menschen zum Marktplatz strebten, sahen sie zu ihrer nicht geringen Verwunderung, dass nun auch die Tochter des Geldverleihers auf dem großen Stein saß und die selbe gleichgültige Haltung angenommen hatte, wie die Zwillinge neben ihr. Es war das beherrschende Gesprächsthema unter all jenen, die das Haus verlassen hatten und allmählich trug die Kunde selbst in die Häuser hinein, bis sie schließlich auch den Geldverleiher erreichte. Der verließ augenblicklich seine Rechenstube und stürmte zum Stein. Noch Tage sprach man von dem Wutanfall, der sich dort über den Sitzenden entlud. Der kräftige Mann schimpfte sich derart in Rage, dass er dunkelrot anlief und manch ein Beobachter sich sorgte, dass er gar auf der Stelle zusammenbrechen und seine Seele aushauchen würde. Nichts derartiges geschah. Genau genommen geschah gar nichts, denn seine bislang immer folgsame Tochter verharrte stumm und ihr Gesicht verriet nichts weiter als entfernte Neugier am seltsamen Verhalten des Vaters. Am Abend desselben Tages versuchte der Geldverleiher in Begleitung seiner schluchzenden Frau die Tochter ins Haus zu zerren. Er konnte sich die zierliche junge Frau zwar über die Schulter werfen und davon tragen, doch erheiterte es die Mandoraner, dass sie am nächsten Morgen unbeirrt wieder auf ihrem Stein saß. Am nächsten Abend kam der Geldverleiher erneut, schlug seine Tochter mit einer saftigen Ohrfeige vom Stein herunter und zerrte sie in das elterliche Haus. Am nächsten Morgen saß sie jedoch mit erkennbaren Blessuren wieder auf beagtem Stein. Die blauen Flecken und Schwellungen schienen ihre Entschlossenheit nur noch zu unterstreichen. An den nächsten Abenden wiederholte sich das Spiel, nur dass man sich erzählte der Geldverleiher sei dazu übergegangen seine Tochter einzusperren, dann habe er sie gar festgebunden, schließlich beides zusammen und vieles mehr. Doch seine Versuche die Tochter fügsam zu halten waren jedes mal gescheitert. Wie sie es jedes mal anstellte, blieb Spekulation, doch an ihrer Entschlossenheit konnte kein Zweifel bestehen. Als nun der Geldverleiher schier den Verstand verlieren wollte, weil er sich zum ersten mal in seinem Leben völlig machtlos fühlte, polterte er wutentbrannt zum Hause der Eltern von Alif und Alef, schlug donnernd an die Tür und verlangte mit lauter Stimme, dass die Eltern ihre Kinder zur Vernunft zu bringen hätten. Sie seien Schuld am Elend seiner Tochter. Die Mutter der Zwillinge, die bei diesen Worten im Hause vor Scham fast ohnmächtig geworden war und ohnehin kaum ertragen konnte, wenn einer sie vor aller Nachbarschaft anbrüllte, fasste sich in ihrer Verzweiflung ein Herz. Sie riss das obere Fenster auf und brüllte mit ebenso lauter Stimme herunter, dass er seine Zunge hüten solle. Sie habe keine Ahnung wovon er rede. Ihre Kinder seinen auswärts in der Schule und könnten folglich nichts mit seiner Tochter zu schaffen haben. Er solle seine Probleme gefälligst selbst lösen. Mit diesen abschließenden Worten schlug sie das Fenster zu und überließ den schockierten Mann den stummen Blicken aus den umliegenden Häusern. Dieser ging schnurstracks in seine Rechenstube und verkündete von diesem Tage an, dass seine Tochter für längere Zeit bei seiner Schwester in Owanu zu Besuch sei. Er habe sie seither nicht gesehen.

Indes verbreitete sich längst schon über den Ort hinaus die Kunde von den Asketen von Mandoran, wie sie fortan allerorts genannt wurden. Immer öfter kamen Menschen extra angereist, zunächst aus der Umgebung und dann aus entlegenen Orten, um einen Blick auf die Enthaltsamen zu werfen. Es war nicht ausgeblieben, dass die Asketen in ihrer Enthaltsamkeit recht mager geworden warn und etwas verwahrlost aussahen, da sie ja stets nur auf ihrem Steine saßen. Dennoch schienen sie keinen Mangel zu leiden und keine Klage kam über ihre Lippen. Sie antworteten leise und freundlich, wenn sie angesprochen wurden und schienen ansonsten nichts zu tun. Zur Verwunderung vieler Mandoraner gesellten sich inzwischen immer neue Asketen hinzu, so dass schließlich nicht nur der große Stein voll wurde, sondern auch um ihn herum in stiller Ruhe meist jüngere aber dazwischen auch betagtere neue Asketen Platz nahmen. Die Stille Erhabenheit dieser Asketen verdutzte viele Mandoraner und Besucher so sehr, dass begannen zu finden, dass ein Dienst an den Asketen auch sie erheben müsse. Essen und Kleidung würden die Asketen nicht annehmen, doch sie ließen es geschehen, dass manch freundlicher Helfer ihnen etwa das Haar bürstete oder an besonders kalten Tagen Decken über sie ausbreitete.

(wird fortgesetzt)

Die Wäscherin von Kweh

Lerte arbeitete tagein, tagaus als Wäscherin in einem der großen Waschhäuser von Kweh. Lerte war ein gutes Frauenzimmer, denn sie arbeitete fleißig, grüßte alle Leute, die sie kannte, und galt als hilfsbereit und treuherzig. Ihr Mann war froh, dass sie fleißig arbeitete, denn so brachte sie nicht nur Geld nach Hause, sondern hatte auch wenig Gelegenheit im schwatzhaft zu kommen. Er war ein stiller Mann mit bescheidenen Wünschen und seit die Kinder mit ihren eigenen Familien in andere Provinzen gezogen waren, blieb nur noch er im Haus, um Lertes abendliche Erzählungen anzuhören. Es war nämlich so, dass Lerte wenig lieber tat, als sich in Gedanken darüber zu verlieren, welche Persönlichkeit von Kweh was tat, hatte, wollte oder ablehnte. Bei der Arbeit hatte sie viel Zeit und Gelegenheit mit den anderen Wäscherinnen und Wäschern darüber zu reden oder ihren Gedanken nachzuhängen. Und was Lerte erfuhr, das war ihr von da ab der neue gute Ton, an dem auch sie selbst teilhaben wollte. Diesen eigentümlichen Zug Lertes begriff schließlich eine geschätzte Kundin von ihr und machte sich seither ihre Späße mit Lerte.

(wird fortgesetzt)